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2004 ist „1984“

Doppelzüngige Sozialpolitik

von Wolfram Rohde-Liebenau

George Orwell lässt grüßen, denn in seiner Vision des Horrorstaats, in seinem Werk „1984“, wurde die „Doppelsprache“ / „double speak“ erfunden, die wir jetzt hautnah erleben. „Krieg ist Frieden“ und „Entrechtung der Schwachen ist Sozialreform“. Die Doppelzüngigkeit ist nicht zu überbieten und das Ganze wird uns dann noch von Parteien serviert, die sich mit den Attributen „sozial“ oder „christlich“ schmücken.

Die Agenda 2010 bietet keinen Ausblick auf eine soziale Zukunft in Deutschland, sondern auf die Beschneidung all dessen, was wir früher als Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft angesehen hätten. Die Hinnahme aller negativen Aspekte der Globalisierung ohne ernsthafte Versuche eines Gegensteuerns im Interesse derjenigen Menschen, die sich an den Rand gedrängt sehen, ist tief tragisch.

Es gibt aber auch kritische Stimmen, wie wir sie beispielsweise von der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz Mitte Dezember 2003 hören konnten. Einige Auszüge daraus wollen wir bedenken und uns anschließend den internationalen Zusammenhängen zuwenden, denn die Armen in Deutschland sind noch reich im Verhältnis zu Brüdern und Schwestern Osteuropas oder der südlichen Halbkugel.

Die Menschen haben Sorgen um ihre Zukunft und um die Zukunft unseres Landes. Die Arbeitslosigkeit trifft immer mehr Menschen und Familien. Die sozialen Sicherungssysteme kosten mehr als die Beitragszahler erbringen wollen. Der Staat macht mehr Schulden als die Europäische Union uns erlaubt.

Die Politik versucht, immer neue Sparpläne zu entwickeln - Pläne für die Rentenreform, für die Gesundheitsreform, die Reform des Arbeitsmarktes oder der Bildungssysteme – Reform ist dabei nur ein anderes Wort für Sparplan - es bedeutet immer Einschränkung, Reduzierung und Schwächung der Schwachen.

Ungleichgewichte

Die katholischen Bischöfe sehen zwei grundlegende Ungleichgewichte der Entwicklung unseres Sozialstaats, die Vertrauen in Frage stellen:

•  das Ungleichgewicht im politischen Prozess zwischen gut organisierten und daher einflussreichen Interessen der Starken einerseits und schlecht organisierbaren aber besonders unterstützungsbedürftigen Interessen der Schwachen andererseits

•  das Ungleichgewicht zwischen aktuellen Problemen und Forderungen einerseits und den absehbaren schwerwiegenden Problemen und Anforderungen in der Zukunft andererseits.

Die systematische Bevorzugung der Sonderinteressen der starken, druckausübenden Gruppen stellt eine eklatante Ungerechtigkeit gegenüber denen dar, die sich kein Gehör verschaffen können. Es erscheint schwer verständlich, dass die Bundesregierung sich diesem Druck der starken Gruppen beugt und dass andererseits die gewerkschaftlichen Kräfte, die sich für die Schwachen einsetzen, in der Partei kein Gehör finden, die unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers steht, der bekanntlich schon mehrfach Kritiker in der SPD-Fraktion des Bundestags durch Rücktrittsdrohungen zum Verzicht auf ihre Kritik gezwungen hat.

Nun will die bischöfliche Kommission in Sorge um eine gerechtere Gesellschaft die katholische Soziallehre zu Wort kommen lassen. Sie verweist auf das „Soziale Wort“ der Kirchen von 1997 und will die damaligen Themen erneut aufnehmen.

Sicher ist keine der großen Säulen des Sozialstaats ohne tiefgreifende Korrekturen zukunftsfähig. Die Versäumnisse der Vergangenheit haben in eine Gesellschaft geführt, in der Solidarität und Eigenverantwortung in gleicher Weise geschwächt wurden. Zugleich hatte sich ein Anspruchsdenken entwickelt, das ohne die Beachtung eigener Leistungspflichten alles vom Staat erwartet. Einige gesellschaftliche Veränderungen, wie besonders der Geburtenrückgang, haben neue Probleme für den Sozialstaat geschaffen.

Zugleich hat aber die Abschaffung der Vermögenssteuer und die immer wieder verlangte Senkung der Besteuerung der Besserverdienenden zu einer Verlagerung der Lasten weg von den Starken hin zu den Schwachen geführt. Drei zentrale Herausforderungen wurden von den Bischöfen benannt, denen die Sozialstaatsreform im Zusammenhang mit europäischer Integration und Globalisierung begegnen sollte:

1) Der demografische Wandel durch den Geburtenrückgang bei steigender Lebenserwartung kehrt die Bevölkerungspyramide um und stellt die Frage nach der Finanzierung der Altersversorgung einer zunehmenden Zahl älterer Menschen. Hier wird eine Antwort gesucht auf das Problem der Förderung des Nachwuchses: von einer höheren Geburtenzahl bis zu besserer Bildung und gleichzeitig eine Antwort auf die Fragen nach einer Alterssicherung für die Menschen, die den Aufbau Deutschlands zur führenden Exportnationen geschafft hatten.

2) Das gleichzeitige Abbröckeln alter Solidaritätsformen untergräbt alle Bemühungen um sozialen Konsens, auf die sich Wirtschaft, Staat und zivile gesellschaftliche Organisationen einigen müssten.

3) Die strukturelle Arbeitslosigkeit, ganz besonders in den neuen Bundesländern, ist ohne Änderungen der Besitzstände aller Beteiligten nicht zu beseitigen. Wir wissen, dass sich in Deutschland eine Zweidrittelgesellschaft entwickelt, zwei Drittel der Gesellschaft leben mit viel Arbeit und hohen Einkommen und ein Drittel der Gesellschaft lebt ohne Arbeit und ohne Einkommen.

Deutschland hat ein Jahr des wirtschaftlichen Rückgangs hinter sich. Der Aufschwung, zu dem uns der Bundeskanzler aufforderte, kann nicht durch „mehr Kaufen“ bewirkt werden – wer will heute Geld ausgeben, wenn er nicht weiß, wie wenig er morgen einnehmen wird?

„Krise des globalen Kapitalismus“

Aber international sieht die Lage noch düsterer aus. George Soros, der ungarische Förderer der „Offenen Gesellschaft“ (und Börsenguru) hat in seinem Werk „Krise des globalen Kapitalismus“ gesagt:

„Der gegenwärtige Stand der Dinge ist pathologisch und unhaltbar. Jetzt wird behauptet, dem Gemeinwohl werde am besten Genüge getan, wenn man jedem gestattet, unbeirrt seine Eigeninteressen zu verfolgen – eine Position, die man im 19. Jahrhundert „laissez-faire“ nannte. Ich habe einen besseren Namen gefunden: Marktfundamentalismus – der unterminiert den demokratischen politischen Prozess. Marktfundamentalisten versuchen soziale Werte zu ignorieren. Seit die Wirtschaft global geworden ist, unterliegen soziale Werte einem Prozess, den man als negative natürliche Selektion bezeichnen kann. Die Skrupellosen gelangen nach oben.“

Diese Thesen der Marktfundamentalisten werden auch von neuen Ethik-Professoren vertreten, die tatsächlich die ungebremste Verfolgung von Eigeninteressen als Gipfel der neuen Ethik bezeichnen – so wird aus blankem Egoismus abgesegnete Ethik.

Mit solchen Grundsätzen an der Hand kann man dann auch Fabriken in Deutschland schließen und irgendwo in Entwicklungsländern neue Fabriken in sogenannten Freihandelszonen aufmachen, in denen Frauen ohne jeden arbeitsrechtlichen Schutz ausgebeutet werden – selbstverständlich auch ohne den Schutz starker Gewerkschaften.

Wirtschaftsterror

Ihre und unsere Kritik an dieser Entwicklung sagte Viviane Forrester in ihrem Werk „L'horreur économique“ (Wirtschaftsterror) an: „Die Gleichgültigkeit ist unbarmherzig, sie erlaubt alle unvorstellbaren Überforderungen... Allgemeine Gleichgültigkeit zu erreichen, stellt für ein System einen viel größeren Sieg dar als teilweise Zustimmung. Die Gleichgültigkeit ist fast immer mehrheitlich und schrankenlos. Hier handelt es sich um eine echte Revolution, die gekommen ist um das liberale System zu verwurzeln.“

Durch diese Kräfte sieht Gerhard Schröder sich gestützt - seine Regierung ist nicht mehr eine sozial-demokratische, sondern eine wirtschaftsliberale Regierung (daher ist wohl die FDP auch langsam überflüssig).

Wir haben in Deutschland viel zu wenig Bewusstsein von der Kritik, die international an diesem globalisierten System des Wirtschafts-Liberalismus geübt wird. Wir sind selbst in unseren Universitäten noch auf einem Stand der volkswirtschaftlichen Lehre, die Ende der 90er Jahre alles überschwemmt hatte, die aber inzwischen längst – auch durch den Träger des Wirtschafts-Nobelpreises Amartya Sen – als überholt angesehen werden kann.

„Who will pay?“

Mit den Folgen einer Fortführung dieser gedankenlosen Politik befasst sich u.a. auch Peter Heller, der Leiter der Fiskalabteilung des Internationalen Währungsfonds. Er hat in seinem Buch „Who will pay?“ Fragen nach der Zukunftsfähigkeit unseres globalisierten Austauschsystems gestellt:

Die Verkehrung eines für die Jahre 2002 - 2010 erwarteten amerikanischen Haushaltsüberschusses von 3 Billionen Dollars (trillions auf amerikanisch) in ein Defizit von 1,7 Billionen Dollar unter George W. Bush innerhalb von zwei Jahren zeigte, wie unzuverlässig die staatlichen Schätzungen selbst des größten und scheinbar reichsten Staates dieser Welt sind. Dort haben die wahnsinnigen Militärausgaben für Angriffskriege und Wahlgeschenke an die Reichen(die Wähler von George W. Bush) zu einem Staatsdefizit geführt, das nun schon gleich hoch ist wie das Zahlungsbilanzdefizit der USA (nämlich über 400 Milliarden Dollar jährlich).

Die USA können nur noch so lange auf Pump von der übrigen Welt (besonders auf Pump von den pumpenden Ölscheichs) leben, wie Vertrauen in den amerikanischen Dollar besteht. Sobald die Finanz-Märkte die Hoffnung auf die Fähigkeit der USA zur Rückzahlung ihrer Schulden aufgeben, wird niemand mehr Dollars oder Dollar-Werte (die vielgepriesenen amerikanischen Aktien) in die Hand nehmen wollen, man wird sie im Gegenteil verkaufen und dann fällt nicht nur der Dollar, sondern auch die amerikanische Wirtschaft ins Bodenlose.

Ein Versuch zur Antwort

Aber das ist nicht die einzige Fragestellung des Buches „Who will pay?“ .

Wichtiger noch sind die Fragestellungen für die armen Länder, deren hohe Verschuldung bei gleichzeitiger Notwendigkeit des Ausbaus der schwachen Infrastrukturen nach einer Unterstützung durch die reichen Länder schreit – sei es durch die Streichung der Schulden, sei es durch sachgerechte und zielorientierte Kredite für Entwicklungszwecke. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass eine Antwort auf die vielen Fragen „Who will pay?“ auf der Hand liegt: die Rüstungshaushalte auflösen und dieses Geld in produktive und soziale Aufgaben stecken.

Der Abstand zwischen den Jahreseinkommen der Menschen im Norden gegenüber denen in vielen Teilen Afrikas und Südasiens ist so hoch, dass die dauernde Ausbeutung und Entrechtung dieser Menschen nicht mehr weitergeführt werden kann. Die sinkenden Rohstoffpreise für die Produkte dieser Länder gegenüber steigenden Preisen für die Produkte der Industrieländer sind ein Zeichen für die Ungerechtigkeit der Globalisierung, sie führen zu einem weiteren Ausbluten und Verarmen der armen Länder.

Wir können einer Zukunft der Ausgrenzung der Mehrheit aller Menschen entgegensehen – die Arbeitslosen in den Industrieländern und die Entrechteten in den Entwicklungsländern können sich die Hand reichen. Eine nächste Revolution ist dann schon am Horizont erkennbar – wenn sich denn nichts ändern sollte. Und dem wird dann auch die amerikanische Vorherrschaft mit der neuesten Militärtechnik bis hin zu neuen Atombomben nicht im Ernst mehr begegnen können.

Diejenigen, die sich eine wirklich bessere Welt (nicht die bessere Welt im Sinne von George W. Bush) vorstellen können, sollten auch in unserem Lande sich verbünden und beginnen auf die Parteien Einfluss zu nehmen, die sich sozial oder christlich nennen. Wenn dort das Wort zu hören ist, dass eine anderen Welt möglich ist, dann haben wir die Hoffnung, dass sich die Wende zum Sozialen noch erreichen lässt. Die materiellen Mittel, die Rohstoffe und das technische Wissen hervorragend ausgebildeter Menschen sind auf dem ganzen Globus vorhanden. Die Wende zum Besseren könnten die mehr als eine Milliarde Dollar täglich herbeiführen, die von den USA für Militär-Ausgaben geplant sind – nämlich dann, wenn diese Mittel in Entwicklungshilfe und Sozialausgaben statt in Militär und Kriegsvorbereitungen fließen würden.

Wolfram Rohde-Liebenau

Netz-Info, April 2004

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