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Zur Freude aller ökumenisch bewegten Menschen wurde nach über zweijährigem Diskurs auf allen Ebenen kirchlichen Lebens (NETZ-Info berichtete) am Sonntag nach Ostern, dem 22. April 2001, in der Thomaskirche in Straßburg von den Kirchen Europas gemeinsam die »Charta oecumenica, Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa« verabschiedet.
Kardinal Lehmann (Mainz), der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz bedauerte zwar, daß die Charta keinen »rechtsverbindlichen« Charakter habe, aber nach Worten von Kardinal Vlk, dem Vorsitzenden der Europäischen Bischofssynode bis Mai 2001, soll sie nun - zumindest für die röm.-kath. Kirche - verbindliche Handlungsgrundlage sein, auf die »mensch« sich immer berufen kann. Deswegen veröffentlicht NETZ-Info den Text, damit auf dieser Basis überall gearbeitet werden kann.
»Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist«
Als Konferenz Europäischer Kirchen und als Rat der Europäischen Bischofskonferenzen sind wir im Geist der Botschaft der beiden Europäischen Ökumenischen Versammlungen von Basel 1989 und von Graz 1997 fest entschlossen, die unter uns gewachsene Gemeinschaft zu bewahren und fortzuentwickeln. Wir danken unserem Dreieinigen Gott, dass er durch seinen Heiligen Geist unsere Schritte zu einer immer intensiveren Gemeinschaft führt.
Vielfältige Formen der ökumenischen Zusammenarbeit haben sich bereits bewährt. In Treue zu dem Gebet Christi: »Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, sollen auch sie eins sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast« (Johannes 17, 21), dürfen wir jedoch bei dem jetzigen Zustand nicht stehenbleiben. Im Bewusstsein unserer Schuld und zur Umkehr bereit müssen wir uns bemühen, die unter uns noch bestehenden Spaltungen zu überwinden, damit wir gemeinsam die Botschaft des Evangeliums unter den Völkern glaubwürdig verkündigen.
Im gemeinsamen Hören auf Gottes Wort in der Heiligen Schrift und herausgefordert zum Bekenntnis unseres gemeinsamen Glaubens sowie im gemeinsamen Handeln gemäß der erkannten Wahrheit wollen wir Zeugnis geben von der Liebe und Hoffnung für alle Menschen.
Auf unserem europäischen Kontinent zwischen Atlantik und Ural, zwischen Nordkap und Mittelmeer, der heute mehr denn je durch eine plurale Kultur geprägt wird, wollen wir mit dem Evangelium für die Würde der menschlichen Person als Gottes Ebenbild eintreten und als Kirchen gemeinsam dazu beitragen, Völker und Kulturen zu versöhnen.
In diesem Sinn nehmen wir diese Charta als gemeinsame Verpflichtung zum Dialog und zur Zusammenarbeit an. Sie beschreibt grundlegende ökumenische Aufgaben und leitet daraus eine Reihe von Leitlinien und Verpflichtungen ab. Sie soll auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens eine ökumenische Kultur des Dialogs und der Zusammenarbeit fördern und dafür einen verbindlichen Maßstab schaffen. Sie hat jedoch keinen lehramtlich-dogmatischen oder kirchenrechtlich-gesetzlichen Charakter. Ihre Verbindlichkeit besteht vielmehr in der Selbstverpflichtung der europäischen Kirchen und ökumenischen Organisationen. Diese können für ihren Bereich auf der Grundlage dieses Basistextes eigene Zusätze und gemeinsame Perspektiven formulieren, die sich konkret mit ihren besonderen Herausforderungen und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen befassen.
»Bemüht euch, die Einheit des Geistes zu bewahren durch den Frieden, der euch zusammenhält. E i n Leib und e i n Geist, wie euch durch eure Berufung auch eine gemeinsame Hoffnung gegeben ist; e i n Herr, e i n Glaube, e i n e Taufe, e i n Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist« (Epheser 4,3-6)
Mit dem Evangelium Jesu Christi, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt wird und im Ökumenischen Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel (381) zum Ausdruck kommt, glauben wir an den Dreieinigen Gott: den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Weil wir mit diesem Credo »die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche« bekennen, besteht unsere unerlässliche ökumenische Aufgabe darin, diese Einheit, die immer Gottes Gabe ist, sichtbar werden zu lassen.
Noch verhindern wesentliche Unterschiede im Glauben die sichtbare Einheit. Es gibt verschiedene Auffassungen, vor allem von der Kirche und ihrer Einheit, von den Sakramenten und den Ämtern. Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Jesus Christus hat uns am Kreuz seine Liebe und das Geheimnis der Versöhnung geoffenbart; in seiner Nachfolge wollen wir alles uns Mögliche tun, die noch bestehenden kirchentrennenden Probleme und Hindernisse zu überwinden.
Wir verpflichten uns,
»Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt« (Johannes 13,35)
Die wichtigste Aufgabe der Kirchen in Europa ist es, gemeinsam das Evangelium durch Wort und Tat für das Heil aller Menschen zu verkündigen. Angesichts vielfältiger Orientierungslosigkeit, der Entfremdung von christlichen Werten, aber auch mannigfacher Suche nach Sinn sind die Christinnen und Christen besonders herausgefordert, ihren Glauben zu bezeugen. Dazu bedarf es des verstärkten Engagements und des Erfahrungsaustausches in Katechese und Seelsorge in den Ortsgemeinden. Ebenso wichtig ist es, dass das ganze Volk Gottes gemeinsam das Evangelium in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein vermittelt wie auch durch sozialen Einsatz und die Wahrnehmung von politischer Verantwortung zur Geltung bringt.
Wir verpflichten uns,
Im Geiste des Evangeliums müssen wir gemeinsam die Geschichte der christlichen Kirchen aufarbeiten, die durch viele gute Erfahrungen, aber auch durch Spaltungen, Verfeindungen und sogar durch kriegerische Auseinandersetzungen geprägt ist. Menschliche Schuld, Mangel an Liebe und häufiger Missbrauch von Glaube und Kirchen für politische Interessen haben die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses schwer beschädigt.
Ökumene beginnt deshalb für die Christinnen und Christen mit der Erneuerung der Herzen und der Bereitschaft zu Buße und Umkehr. In der ökumenischen Bewegung ist Versöhnung bereits gewachsen.
Wichtig ist es, die geistlichen Gaben der verschiedenen christlichen Traditionen zu erkennen, voneinander zu lernen und sich so beschenken zu lassen. Für die weitere Entfaltung der Ökumene ist es besonders erforderlich, die Erfahrungen und Erwartungen der Jugend einzubeziehen und ihre Mitwirkung nach Kräften zu fördern.
Wir verpflichten uns,
Ökumene geschieht bereits in vielfältigen Formen gemeinsamen Handelns. Viele Christinnen und Christen aus verschiedenen Kirchen leben und wirken gemeinsam in Freundschaften, in der Nachbarschaft, im Beruf und in ihren Familien. Insbesondere konfessionsverschiedene Ehen müssen darin unterstützt werden, Ökumene in ihrem Alltag zu leben.
Wir empfehlen, auf örtlicher, regionaler, nationaler und internationaler Ebene bi- und multilaterale ökumenische Gremien für die Zusammenarbeit einzurichten und zu unterhalten. Auf der europäischen Ebene ist es nötig, die Zusammenarbeit zwischen der Konferenz Europäischer Kirchen und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen zu stärken und weitere Europäische Ökumenische Versammlungen durchzuführen.
Bei Konflikten zwischen den Kirchen sollen Bemühungen um Vermittlung und Frieden initiiert bzw. unterstützt werden.
Wir verpflichten uns,
Die Ökumene lebt davon, dass wir Gottes Wort gemeinsam hören und den Heiligen Geist in uns und durch uns wirken lassen. Kraft der dadurch empfangenen Gnade gibt es heute vielfältige Bestrebungen, durch Gebete und Gottesdienste die geistliche Gemeinschaft zwischen den Kirchen zu vertiefen und für die sichtbare Einheit der Kirche Christi zu beten. Ein besonders schmerzliches Zeichen für die Zerrissenheit unter vielen christlichen Kirchen ist die fehlende eucharistische Gemeinschaft.
In einigen Kirchen bestehen Vorbehalte gegenüber gemeinsamen ökumenischen Gebeten. Aber weithin prägen viele ökumenische Gottesdienste, gemeinsame Lieder und Gebete, insbesondere das Vaterunser, unsere christliche Spiritualität.
Wir verpflichten uns,
Unsere in Christus begründete Zusammengehörigkeit ist von fundamentaler Bedeutung gegenüber unseren unterschiedlichen theologischen und ethischen Positionen. Anders als die uns geschenkte und bereichernde Vielfalt haben jedoch Gegensätze in der Lehre, in ethischen Fragen und in kirchenrechtlichen Festlegungen auch zu Trennungen zwischen den Kirchen geführt; oft spielten dabei besondere geschichtliche Umstände und unterschiedliche kulturelle Prägungen eine entscheidende Rolle.
Um die ökumenische Gemeinschaft zu vertiefen, sind die Bemühungen um einen Konsens im Glauben unbedingt fortzusetzen. Ohne Einheit im Glauben gibt es keine volle Kirchengemeinschaft. Zum Dialog gibt es keine Alternative.
Wir verpflichten uns,
»Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden« (Matthäus 5,9)
Durch die Jahrhunderte hindurch hat sich ein religiös und kulturell vorwiegend christlich geprägtes Europa entwickelt. Zugleich ist durch das Versagen der Christen in Europa und über dessen Grenzen hinaus viel Unheil angerichtet worden. Wir bekennen die Mitverantwortung an dieser Schuld und bitten Gott und die Menschen um Vergebung.
Unser Glaube hilft uns, aus der Vergangenheit zu lernen und uns dafür einzusetzen, dass der christliche Glaube und die Nächstenliebe Hoffnung ausstrahlen für Moral und Ethik, für Bildung und Kultur, für Politik und Wirtschaft in Europa und in der ganzen Welt.
Die Kirchen fördern eine Einigung des europäischen Kontinents. Ohne gemeinsame Werte ist die Einheit dauerhaft nicht zu erreichen. Wir sind überzeugt, dass das spirituelle Erbe des Christentums eine inspirierende Kraft zur Bereicherung Europas darstellt. Aufgrund unseres christlichen Glaubens setzen wir uns für ein humanes und soziales Europa ein, in dem die Menschenrechte und Grundwerte des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Toleranz, der Partizipation und der Solidarität zur Geltung kommen. Wir betonen die Ehrfurcht vor dem Leben, den Wert von Ehe und Familie, den vorrangigen Einsatz für die Armen, die Bereitschaft zur Vergebung und in allem die Barmherzigkeit.
Als Kirchen und als internationale Gemeinschaften müssen wir der Gefahr entgegentreten, dass Europa sich zu einem integrierten Westen und einem desintegrierten Osten entwickelt. Auch das Nord-Süd-Gefälle ist zu beachten. Zugleich ist jeder Eurozentrismus zu vermeiden und die Verantwortung Europas für die ganze Menschheit zu stärken, besonders für die Armen in der ganzen Welt.
Wir verpflichten uns,
Die Vielfalt der regionalen, nationalen, kulturellen und religiösen Traditionen betrachten wir als Reichtum Europas. Angesichts zahlreicher Konflikte ist es Aufgabe der Kirchen, miteinander den Dienst der Versöhnung auch für Völker und Kulturen wahrzunehmen. Wir wissen, dass der Friede zwischen den Kirchen dafür eine ebenso wichtige Voraussetzung ist.
Unsere gemeinsamen Bemühungen richten sich auf die Beurteilung und Lösung politischer und sozialer Fragen im Geist des Evangeliums. Weil wir die Person und Würde jedes Menschen als Ebenbild Gottes werten, treten wir für die absolute Gleichwertigkeit aller Menschen ein.
Als Kirchen wollen wir gemeinsam den Prozess der Demokratisierung in Europa fördern. Wir engagieren uns für eine Friedensordnung auf der Grundlage gewaltfreier Konfliktlösungen. Wir verurteilen jede Form von Gewalt gegen Menschen, besonders gegen Frauen und Kinder.
Zur Versöhnung gehört es, die soziale Gerechtigkeit in und unter allen Völkern zu fördern, vor allem die Kluft zwischen Arm und Reich sowie die Arbeitslosigkeit zu überwinden. Gemeinsam wollen wir dazu beitragen, dass Migranten und Migrantinnen, Flüchtlinge und Asylsuchende in Europa menschenwürdig aufgenommen werden.
Wir verpflichten uns,
Im Glauben an die Liebe Gottes, des Schöpfers, erkennen wir dankbar das Geschenk der Schöpfung, den Wert und die Schönheit der Natur. Aber wir sehen mit Schrecken, dass die Güter der Erde ohne Rücksicht auf ihren Eigenwert, ohne Beachtung ihrer Begrenztheit und ohne Rücksicht auf das Wohl zukünftiger Generationen ausgebeutet werden.
Wir wollen uns gemeinsam für nachhaltige Lebensbedingungen für die gesamte Schöpfung einsetzen. In Verantwortung vor Gott müssen wir gemeinsam Kriterien dafür geltend machen und weiter entwickeln, was die Menschen zwar wissenschaftlich und technologisch machen können, aber ethisch nicht machen dürfen. In jedem Fall muss die einmalige Würde jedes Menschen den Vorrang vor dem technisch Machbaren haben.
Wir empfehlen, einen ökumenischen Tag des Gebetes für die Bewahrung der Schöpfung in den europäischen Kirchen einzuführen.
Wir verpflichten uns,
Eine einzigartige Gemeinschaft verbindet uns mit dem Volk Israel, mit dem Gott einen ewigen Bund geschlossen hat. Im Glauben wissen wir, dass unsere jüdischen Schwestern und Brüder »von Gott geliebt sind, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt« (Röm. 11,28-29). Sie haben »die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheissungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus« (Röm. 9,4-5).
Wir beklagen und verurteilen alle Manifestationen des Antisemitismus, wie Hassausbrüche und Verfolgungen. Für den christlichen Antijudaismus bitten wir Gott um Vergebung und unsere jüdischen Geschwister um Versöhnung.
Es ist dringend nötig, in Verkündigung und Unterricht, in Lehre und Leben unserer Kirchen die tiefe Verbindung des christlichen Glaubens zum Judentum bewusst zu machen und die christlich-jüdische Zusammenarbeit zu unterstützen.
Wir verpflichten uns,
Seit Jahrhunderten leben Muslime in Europa. Sie bilden in manchen europäischen Ländern starke Minderheiten. Dabei gab und gibt es viele gute Kontakte und Nachbarschaft zwischen Muslimen und Christen, aber auch massive Vorbehalte und Vorurteile auf beiden Seiten. Diese beruhen auf leidvollen Erfahrungen in der Geschichte und in der jüngsten Vergangenheit.
Die Begegnung zwischen Christen und Muslimen sowie den christlich-islamischen Dialog wollen wir auf allen Ebenen intensivieren. Insbesondere empfehlen wir, miteinander über den Glauben an den einen Gott zu sprechen und das Verständnis der Menschenrechte zu klären.
Wir verpflichten uns,
Die Pluralität von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und Lebensformen ist ein Merkmal der Kultur Europas geworden. Östliche Religionen und neue religiöse Gemeinschaften breiten sich aus und finden auch das Interesse vieler Christinnen und Christen.
Auch gibt es immer mehr Menschen, die den christlichen Glauben ablehnen, sich ihm gegenüber gleichgültig verhalten oder anderen Weltanschauungen folgen.
Wir wollen kritische Anfragen an uns ernst nehmen und uns gemeinsam um eine faire Auseinandersetzung bemühen. Dabei ist zu unterscheiden, mit welchen Gemeinschaften Dialoge und Begegnungen gesucht werden sollen und vor welchen aus christlicher Sicht zu warnen ist.
Wir verpflichten uns,
Jesus Christus ist als Herr der einen Kirche unsere größte Hoffnung auf Versöhnung und Frieden.
In seinem Namen wollen wir den gemeinsamen Weg in Europa weitergehen. Wir bitten Gott um den Beistand seines Heiligen Geistes.
»Der Gott der Hoffnung erfülle uns mit aller Freude und mit allem Frieden im Glauben, damit wir reich werden an Hoffnung in der Kraft des Heiligen Geistes« (Röm. 15,13)
Als Präsidenten der Konferenz Europäischer Kirchen und des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen empfehlen wir diese Charta Oecumenica als Basistext allen Kirchen und Bischofskonferenzen von Europa zur Annahme und Umsetzung in ihrem jeweiligen Kontext.
Mit dieser Empfehlung unterschreiben wir die Charta Oecumenica im Rahmen der Europäischen Ökumenischen Begegnung am ersten Sonntag nach den gemeinsamen Ostern im Jahre 2001.
Straßburg, den 22. April 2001
Metropolit Jéremie - Präsident der Konferenz Europäischer Kirchen
Kardinal Vlk - Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen
Netz-Info, Sommer 2001